Schwarze Weihnachten
Ich kann mich nicht daran erinnern, Weihnachten in meiner Kindheit gefeiert zu haben. Nun, ich bin ohne Religion groß geworden, in einem eigentlich katholischen Land. Meine Familie glaubte an Gott. Und dann kam Castro. Fidel Castro verbot faktisch die Ausübung jeglicher Religion in Kuba. Wie dies vonstattenging, erzähle ich u.a. anhand der Erfahrungen eines Mitglieds meiner Familie in meinem Buch "Ein kleines Stück Himmel". Dass in Kuba Weihnachten gefeiert worden waren und anderswo noch gefeiert wurde, wusste ich. Meine Großmutter dekorierte noch ihren alten künstlichen Weihnachtsbaum, bis die Weihnachtskugeln ersatzlos kaputt gingen und es ebenso keinen Ersatz mehr für die bunten kleinen Birnen der Lichterkette für das Bäumchen zu kaufen gab. Zu der Weihnachtszeit hörte ich sie dann nur Weihnachtslieder singen, das Einzige, was ihr - außer ihrem Glauben - geblieben war. Im Gedächtnis behielt ich die spanische Version von Jingle Bells und ein Lied, das die Geburt des Jesuskindes besang: Arbolito, arbolito, campanitas te pondré, quiero que seas bonito y al recién nacido te voy a ofrecer …
Viele Kubaner feiern wieder Weihnachten. Ich habe den Moment verpasst, in dem die Tradition wieder geboren wurde. Aber es scheinen nicht wenige zu sein, die sich bemühen, zumindest diese Tage etwas Besinnlichkeit in ihrem traurigen Alltag zu bringen. Für den gemeinen Kubaner (anders als für die Führungsriege des Landes und ihre Familien) wird es immer schwieriger, den Proviant für die Ausrichtung der Feierlichkeiten zu kaufen. Vom traditionellen Schweinefleisch können sie nur träumen. Aktuelle Bilder aus Havanna aus dem Internet zeigen unendliche Schlangen für Hähnchen, die verkauft werden sollten, doch offensichtlich "ausgeflogen" waren, denn die riesige Menschenmenge formierte spontan und im Handumdrehen einen Chor, das mit ohrenbetäubender Lautstärke rief: Queremos el pollo! Wir wollen das Hähnchen! Manch einer äußerte sich dazu: "Wenn sie sich genauso gegen die Regierung einsetzten würden, wäre sie nicht mehr da." Ich hoffe, dass diese Menschen, wenn nicht pollo, etwas anderes für ihr weihnachtliches Abendmahl besorgen konnten.
Die Freude darüber, dass es endlich wieder Weihnachten ist - wie es heißt, das Fest der Liebe - werden viele kubanischen Familien nicht teilen, obwohl das Ende eines Jahres für sie heißt, ein Jahr voller Not und Elend ist vorbei. Die Liste der Mütter und Väter, der Kinder, der Geschwister und der Freunde, die ihre Kinder, Eltern, Brüder und Schwestern beweinen, weil sie inhaftiert sind, ist lang. Inhaftiert, weil sie anders denken und von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch machten. Für sie gilt: Keine Jesus- Geburtstagsfeier, keine Feliz navidad, kein Ho, ho, ho, keine Stille Nacht …
Wie für die Schwestern Angélica, 39 Jahre, und María Cristina Garrido, 41 Jahre, jeweils zu 3 und zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt, die erstgenannte seit mehr als 50 Tage in Einzelhaft. Ihre Eltern sahen sie nicht wieder, die Mutter verstarb vor ein paar Tagen, der Vater war im August verstorben.
Wie für die Brüder Jorge und Nadir Perdomo. Ihre Großmutter sah sie nicht wieder, sie ist vor ein paar Tagen verstorben.
Wie für Ramón Perez Conde, Maikel Puig Pergola, Virgilio Mantilla, die Sayli Navarro und ihr Vater und Félix Navarro, die Brüder Uvency Matos und Andy Luis García Montero, Yerli Luis Velázquez, Fray Claro Valladares, Taimir García Meriño. Wie für Walnier Luis Aguilar, 21 Jahre, zu 22 Jahre Gefängnis verurteilt.
Wie für José Daniel Ferrer, der während eines Besuchs seiner Familie im Gefängnis vor den Augen seines dreijährigen Kindes geschlagen wurde, wie seine Frau anzeigte. Wie für Lázaro Yuri Valle Roca, der in Haft praktisch erblindet ist. Wie für den zu 12 Jahren verurteilten, 19 jährigen Orlando Carvajal Cabrera. Wie für Yoandri Reinier Sayu, zu 8 Jahren Haft verurteilt. Wie für Miguel Enrique Girón Velázquez, José Adalberto Fernández, Alejandro Guilleuma, Rosmery Almeida, Danilo Martínez, Frank Artola, Hillary Gutiérrez und Cynthia Trevino. Wie für den Minderjährigen Miguel Mendoza. Wie für Jonathan Torres. Wie für Jenni Taboada, deren Familie nicht weiß, wo sie festgehalten wird.
Und wie für viele weiteren. Am 9. Dezember 2022 waren sie insgesamt 1034. 1034 politische Gefangenen, presos de conciencia.
Wie Aymara Nieto, die 2018 aus politischen Gründen zu vier Jahren Haft verurteilt worden war. In diesem Jahr wurde sie, vier Wochen, bevor sie aus der Haft entlassen werden sollte, zu weiteren fünf Jahren verurteilt. Ihre kleinen Mädchen werden viele Weihnachten ohne sie verbringen.
Gestern wurde bekannt gegeben, dass einer der vielen, der politische Gefangene Mario Jossué Prieto Ricardo, spanischer Staatsbürger, wohnhaft in den USA, der während seiner Haft mehrmals versucht habe, seinem Leben ein Ende zu setzen, entlassen wurde. Auch ihm haben sie Weihnachten genommen. Mit den dunklen Erinnerungen aus der Zeit in einem kubanischen Gefängnis nimmt er einen Schaden fürs Leben mit.
Der Schmerz, den diese Menschen und ihre Familien durchmachen ist für uns freie Menschen unvorstellbar. Solange ihre Lieben sich in Haft befinden, werden sie keine Weihnachten haben. Und wahrscheinlich ist schon jetzt die Freude an zukünftigen Weihnachten auch nach deren Entlassung dahin. Die maßlosen Strafen, die die sozialistische, parteiische Unrechtsjustiz verhängt hat, lassen ahnen, dass für viele möglicherweise die letzten bunten Weihnachten bereits zurückliegen. Vielen stehen für eine lange Zeit, vielleicht für die längste ihres Lebens, ausschließlich Schwarze Weihnachten bevor.
Doch Schwarze Weihnachten feiern auch die, die gezwungen werden, ihren Lieben fern zu bleiben. Wie die Aktivistin Omara Ruiz Urquiola. Nach einem Aufenthalt im Ausland wollte sie in ihre Heimat Kuba zurück, wo sie wohnt. Bereits beim Antreten eines Fluges, der sie nach Hause bringen soll, wird sie, im Auftrag der kubanischen Regierung, daran gehindert. Sie war Dozentin an der Universität Havannas und wurde 2019 aus ideologischen Gründen entlassen. Sie schloss sich der Bewegung San Isidro an, die Künstler und Intellektuelle im Kampf gegen Zensur und für freie Meinungsäußerung eint und durch Luis Manuel Otero Alcántara bekannt wurde.
Oder wie die unzähligen kubanischen Familien, die das Castro- System getrennt hat. Mütter und Väter, die einsam sind, weil die Kinder auf der Suche nach einem besseren Leben ins Exil gingen. Familien, die ihre Lieben bei dieser gefährlichen Reise verloren haben. Junge Menschen, die eines Tages erfuhren, dass die Freunde das Weite gesucht haben, ohne sich zu verabschieden. Großeltern, die sich von ihren Enkeln verabschiedeten, wohl wissend, sie würden sie nicht wieder sehen.
Sie alle hatten auf Merry Christmas gehofft. Und bekamen Schwarze Weihnachten.
Nat Neumann, Dezember 2022
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